Das Mädchen Rosemarie
Es ist sehr mild für die Jahreszeit, fünfzehn
Grad. Nieselregen in Frankfurt. In Bonn gibt Bundeskanzler Adenauer seine Regierungserklärung
ab, in West-Berlin ist Willy Brandt an der Macht, und im Weltraum schwebt Sputnik II. Es ist
Dienstag, der 29. Oktober 1957.
Doch die eigentliche Sensation dieses Tages wird erst 72 Stunden später, am 1.
November bekannt: ein Mord in einer 75 qm - Wohnung des vierten Stockwerks in der
Stiftstraße 36, gleich neben dem Eschenheimer Turm. Das Opfer: eine Prostituierte.
Ihr rechtes Bein liegt auf der Cordcouch, das linke darunter. Ihr Oberkörper auf
dem Teppich. Am Hinterkopf klafft eine drei Zentimeter lange Platzwunde, der Hals trägt
Würgemale.
Es ist sehr heiß im Wohnzimmer, fast 30°C. Die Bodenheizung ist voll
aufgedreht, Fenster und Gardinen sind geschlossen. Der weiße Pudel Joe läuft
winselnd von Raum zu Raum. Sonst trauert eigentlich niemand um die 24jährige. Denn
sie wird erst jetzt, nach ihrem Tod, zu Deutschlands berühmtester
Edel-Prostituierten. Ihr Name ist Rosemarie Nitribitt. Ihre Kunden sind prominente
Wirtschaftsbosse, Rechtsanwälte, �rzte und Politiker.
Mit Rosemaries Tod hat das Wirtschaftswunder in Deutschland seinen ersten
Gesellschaftsskandal. Ein Notizbuch löst ihn aus, das die Beamten der
Mordkommission bei der Spurensuche entdecken. Es enthält angeblich Adressen und
Telefonnummern von mehr als 100 Kunden, alles hochangesehene Leute. Bewußt schürt
die Polizei dieses Gerücht. Mit Erfolg: Zahlreiche Kunden der Prostituierten melden
sich freiwillig bei der Mordkommission. Doch der Mörder ist nicht unter ihnen.
Rosemarie Nitribitt wurde in der Heimatstadt ihrer Mutter beerdigt, im Düsseldorfer
Stadtteil Derendorf, aber ohne Kopf. Der wurde von der Staatsanwaltschaft zwecks
weiterer Untersuchungen einbehalten. Später lag er dann wohl im Weg, weshalb ein
Beamter mit dem Schädel zu ihrer Mutter geschickt wurde. Die Frau fiel in Ohnmacht.
Seitdem liegt der Kopf von Rosemarie Nitribitt im Frankfurter Polizeipräsidium.
Tief unten im Keller.
Bis heute hält sich hartnäckig die Vermutung, dass der Mörder in
prominenten politischen Kreisen zu suchen ist und dass damals bewusst Beweise vernichtet
wurden. Der Aufstieg und Fall der Rosemarie Nittribitt wurde übrigens zweimal
verfilmt, zuletzt 1995 von Bernd Eichinger mit "Das Mädchen Rosemarie".